
NEUROtiker – CC BY-SA 3.0
Vieles glauben wir ja erst wirklich, wenn es die Wissenschaft auch so festgestellt hat. Es gibt zur Zeit einen heftigen Streit darüber, ob der Mensch überhaupt ein freies Wesen sei, weil nachweislich sehr vieles beim Menschen automatisch abläuft und gar nicht der Freiheit unterliegt oder von mir bewusst kontrolliert werden kann.
Das ist im Übrigen auch gut so. Denn wenn ich alle die Vorgänge, die ständig in mir ablaufen, auch noch kontrollieren wollte, hätte ich weder Zeit noch Kraft für die wichtigen Dinge, die ich selbst entscheiden kann und will. Für die ich dann bewusst meine Freiheit gebrauche und mich entscheide, wie zum Beispiel jetzt los zu gehen und den alten Herrn zu besuchen. Zum Glück muss ich nicht bei jedem Schritt, den ich dann im Haus oder auf der Straße tue, nachdenken. Wie oft wohl würde ich hinfallen! Welch ein Glück, dass ich Radfahren gelernt habe und dass es von selbst läuft und ich nicht überlegen muss, wie ich jetzt bremse, sondern dass es automatisch geht. Sonst hätte ich auf meinem Weg zum alten Herrn beinahe das Kind angefahren, das da unvermittelt auf die Straße lief. So ging alles mit einem Lächeln vorbei.
Gewohnheiten sind solche halb automatischen Abläufe. Ich muss zum Glück nicht täglich neu entscheiden, ob ich mir heute die Zähne putze, ich mach es einfach am Abend. Zum Glück muss ich auch nicht nachdenken, ob ich heute meine Gebetszeit halte. Das ist einfach eingerastet. Vor vielen Jahren habe ich mich entschieden und es durchgekämpft, bis es Gewohnheit wurde. Fast immer um die gleiche Zeit setze ich mich in meine Gebetsecke, zünde die Kerze an, schlage die Bibel auf und bin bei meiner Stelle. Halbautomatisch. Und hirnphysiologisch programmiert.
Ob ich da dann aber wirklich auch innerlich zur Stelle bin, das ist die Frage. Je fester eine Gewohnheit ist, um so automatischer läuft sie ab. Das ist eben auch beim Gebet der Fall, wenn es eine feste Gewohnheit ist. Aufmerksamkeit und Wachheit sind dann oft ein Problem. Ich gehe ins Gebet nicht mehr bewusst, sondern fast unbewusst. Ich bin nicht mehr ganz dabei. Das stellt auch die Hirnphysiologie fest. Ja, sie kann es sogar messen. Ich spüre es nur, dass ich nicht so ganz da bin, aber genau so sicher wie das Messgerät.
Es ist also gut und hilfreich, wenn ich bewusst ins Gebet gehe. Wenn ich es entscheide. Wenn ich über die Gewohnheit hinaus mir bewusst mache, was ich jetzt tun will. Hirnphysiologisch wertvoll! Bewusste freie und wache Entscheidung!
Obwohl damals die Hirnphysiologie noch ganz unbekannt war, hat der heilige Ignatius folgenden Rat gegeben: Einen Schritt oder zwei vor dem Ort, an dem ich die Betrachtung oder Besinnung zu halten beabsichtige, werde ich mich auf die Zeit eines Vater Unser hinstellen und, den Geist nach oben gerichtet, erwägen, wie Gott Unser Herr mich anschaut, und mich innerlich vor Ihm verneigen oder demütigen (Exerztienbuch Nr. 75, Übers. H. U. v. Balthasar). Also noch vor dem immer gleichen Vorbereitungsgebet zur Betrachtung, in dem ich ja bitte, dass mich Gott auf sich ausrichten möge, und zwar alle meine Gedanken und Gefühle, also noch vor diesem Gebet, mir bewusst machen, was ich jetzt tun will und dass es in Gottes liebendem Blick geschieht.
Ja, auch wenn es hirnphysiologisch so wichtig ist, Ignatius wollte nicht zuerst, dass wir für uns selbst etwas tun – also Wachheit und Aufmerksamkeit in mir und für mich zu erwecken, er wollte zuerst, dass wir uns bewusst machen, mit wem wir nun reden und vertrauten Umgang haben wollen. Das kann natürlich die Hirnphysiologie noch nicht so richtig messen, dass es um Gott geht. Aber sie könnte wohl sehr genau messen, was mit jemandem passiert, der gleich eine Audienz bei der Queen oder beim Papst hat oder der sich mit dem so sehnsüchtig erwarteten geliebten Menschen trifft.
Ja, um so etwas und um mehr geht es.
Wir haben kürzlich ein ganzes Wochenende lang bei jedem Gebet in der Gruppe die zitierte Übung des Ignatius gemacht: Vor dem Gebet bewusst aufgeschaut und eine Geste der Verehrung gemacht und dann erst gebetet. Es hat uns allen geholfen, besser zu beten. Dass es hirnphysiologisch den letzten Erkenntnissen entspricht, war uns in dem Moment nicht bewusst.
Es grüßt Sie herzlich und lädt Sie ein, das auch einmal (wieder) zu tun.
Thomas Gertler SJ
25. Oktober 2017
Wachheit und Aufmerksamkeit ist ein Hauptthema in der Verkündigung Jesu. Oft und oft geht es darum, im Augenblick, im Jetzt, im Heute, in der Gegenwart zu leben und zu verstehen, worauf es jetzt ankommt und die rechte Entscheidung zu treffen und von der Freiheit Gebrauch zu machen. Und das folgende Stück aus dem Lukas-Evangelium zeigt uns, dass es damals auch schon die Gewohnheit und das Verschlafen gab.

Arnaud Gaillard – CC BY-SA 1.0 via WikiMedia Commons
Lk 12,35 – 38
12,35Legt euren Gürtel nicht ab und lasst eure Lampen brennen! 36 Seid wie Menschen, die auf die Rückkehr ihres Herrn warten, der auf einer Hochzeit ist, und die ihm öffnen, sobald er kommt und anklopft. 37 Selig die Knechte, die der Herr wach findet, wenn er kommt! Amen, ich sage euch: Er wird sich gürten, sie am Tisch Platz nehmen lassen und sie der Reihe nach bedienen. 38 Und kommt er erst in der zweiten oder dritten Nachtwache und findet sie wach – selig sind sie.